altemaelze

All Quiet on the Eastern Esplanade

The Libertines

Insider-Kritik – gefunden bei „Pitchfork“

Nach fast neun Jahren veröffentlichen The Libertines endlich ihr neues Album „All Quiet On The Eastern Esplanade“, es ist das zweite Album, seit sich die Band 2010 wieder reformiert hatte. Der Album-Titel spielt auf eine seltene Phase der Ruhe und Harmonie zwischen den notorisch zerstrittenen Pete Doherty und Carl Barât an. In dieser Zeit entstand das bislang erst vierte Werk der UK-Indie-Helden, das reifer und fokussierter, aber immer noch typisch nach The Libertines klingt.

Während der ersten Phase der Libertines, von 1997 bis 2004, lebte die Band von einem gefährlichen kreativen Chaos, angetrieben von der Hassliebe zwischen den Gründungsmitgliedern und Hauptsongwritern Carl Barât und Peter Doherty, sowie von Londoner Busladungen harter Drogen. Obwohl die Beziehung zweifellos ungesund war – Doherty wurde bekanntlich für einen Einbruch in Barâts Wohnung ins Gefängnis gesteckt, und die beiden brauchten Bodyguards, um sich während der Aufnahmen zu ihrem zweiten Album voneinander fernzuhalten -, führte diese Spannung zu einem aufregenden, nervenzerfetzenden Debüt und einem Nachfolger, der auf seinem Weg an die Spitze der britischen Charts immer wieder Funken schlug. Im Einklang mit dieser stürmischen Geschichte wurde das dritte Album der Band, das überraschend vitale „Anthems for Doomed Youth“ von 2015, laut Barât „aus der Komplexität geboren“. Damit ist „All Quiet on the Eastern Esplanade“ die erste Libertines-LP, die unbeschwert erscheint. Für jeden, der mit den Libertines aufgewachsen ist, ist es schwer, sie nicht anzufeuern. Und doch sind die ersten Anzeichen alles andere als vielversprechend. „Run Run Run“ – die Leadsingle, die ironischerweise davon handelt, der Vergangenheit zu entfliehen – verwendet innerhalb der ersten 30 Sekunden die altbekannte Zeile „It’s my party and I’ll cry if I want to“. Von da an wird der Indie-Rock nicht mehr viel inspirierter: Die Grenze zwischen einem guten und einem schlechten Libertines-Song bleibt gefährlich dünn. „Night of the Hunter“ geht noch einen Schritt weiter und klaut nicht nur seinen Titel (aus Charles Laughtons Noir-Meisterwerk von 1955), sondern auch sein zentrales Motiv, in diesem Fall aus Tschaikowskis Schwanensee, eine Anleihe, die man besser ungehört lässt. Bei „Oh Shit“ reißen sich die Libertines mit einem spiralförmigen Gitarrenriff, das fast eine Kopie ihrer 2003er Single „Don’t Look Back Into the Sun“ ist, selbst aus. Was wären die Libertines ohne ihre zentrale Spannung? Vielleicht gar nicht so anders als die Britpop-Bands, denen sie in die Charts folgten, oder die Legionen von Möchtegerns, die sie in den frühen 2000er Jahren inspirierten, d.h. ganz in der klassischen britischen Rocklinie der Kinks, The Jam und The Smiths, wenn auch ohne die wehmütige Schönheit, die kunstvolle Wut und die naive Experimentierfreude aller drei. Es gibt Momente auf diesem Album, die von einer Band zeugen, die einst ihre Eigenheiten zu schätzen wusste. „Baron’s Claw“ hat einen Hauch von Hot Jazz in seinen ausladenden Trompetenlinien, während der Ausflug von „Be Young“ in den Reggae interessant, wenn auch nicht ganz lohnend ist, was auch daran liegt, dass Gary Powell einer der intelligentesten Schlagzeuger des Indie-Rock ist.

Diese interessanten Punkte werden durch eine Reihe gut gemachter, aber abgeleiteter Indie-Pop-Melodien aufgewogen, bei denen melodische Intelligenz auf Songwriting wie aus dem Lehrbuch trifft. „Songs They Never Play on the Radio“ leiht sich den Titel einer viel beachteten Nico-Biografie aus dem Jahr 1992 und unterlegt ihn mit einer schwermütigen Downbeat-Melodie, während „Man With the Melody“ mit seinen glitzernden Streichern, akustischen Gitarren und einer raffiniert absteigenden, Albarn-esken Melodie auch von Blur stammen könnte. Es ist eine perfekte Illustration des zentralen Problems von „All Quiet on the Eastern Esplanade“: Den Libertines mag es an Originalität mangeln, aber sie können immer noch eine starke Melodie produzieren, wenn die Muse zuschlägt! Oder wie das „Visions“ in seiner Kritik schreibt: „Dieses Album lebt und weist The Libertines den Weg zu einer künstlerisch fruchtbaren Alterskarriere und zeigt, wozu diese Band tatsächlich in der Lage ist.“ (EMI) Pitchfork/Ben Cardew

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