Karl Kraus schreibt es selbst im ersten Satz seines Vorworts: Bei „Die letzten Tage der Menschheit“, seinem Drama, das die Jahre des ersten Weltkriegs aus der Innenperspektive betrachtet, handelt es sich um ein gleichermaßen aus quantitativen wie qualitativen Gründen unaufführbares Stück. Da ist zum einen die mit rund 800 Seiten überdimensionierte Länge des von ihm, dem führenden deutschsprachigen Satiriker seiner Zeit (gelebt hat er von 1874 bis 1936), gesammelten und weitgehend aus O-Tönen bestehenden Stoffs. Nach „irdischem Zeitmaß“ würde es „etwa zehn Abende umfassen“. Seine Skepsis nährt sich aber auch aus der Tatsache, dass „Theatergänger dieser Welt“ dem Inhalt nicht standzuhalten vermögen: „Denn es ist Blut von ihrem Blute und der Inhalt ist von dem Inhalt der unwirklichen, undenkbaren, keinem wachen Sinn erreichbaren, keiner Erinnerung zugänglichen und nur in blutigem Traum verwahrten Jahre, da Operettenfiguren die Tragödie der Menschheit spielten.“ Der Blick in den Spiegel und das Echo der Stimmen: Im schlechtesten Fall könnten sie ohne Wirkung sein. Oder tödliche Schockmomente auslösen.
Der Klang der Jahre
Karl Kraus, der große „Widersprecher“, der Leser der Zeitungen seiner Zeit, der sich stets im Konflikt mit dem Geist seiner Gegenwart befand und wie ein Blogger heutiger Tage dieses Aufbegehren und Nicht-Einverstanden-Sein in seiner „Fackel“ mitprotokollierte, er war sich also der Paradoxie seines Unterfangens sehr wohl bewusst. Umso größer die Herausforderung, der sich der in Graz geborene, in Wien sozialisierte und seit Jahrzehnten in Regensburg ansässige Schauspieler Werner Steinmassl stellt. Wenn er hier im Turmtheater „Die letzten Tage der Menschheit“ auf eine rund 80-minütige Lesung eindampft und dem vielstimmigen, weitgehend im Dialekt vorgetragenen Chor von Nörglern und Optimisten, von Prostituierten und Militärs, Zeitungslesern und anderen Unkundigen einen solchen Ausdruck verleiht, dass wie in einem Ensemble Sturm läutender Kirchenglocken der Klang der Jahre zwischen 1914 und 1918 aufgehoben ist. Werner Steinmassl hat zudem ein Akkordeon umgeschnallt – und unterbricht seinen Vortrag immer wieder mit dem, was man „Wiener Lied“ nennt und zitiert damit auch Stimmen wie die von Helmut Qualtinger oder André Heller, die sich nach dem zweiten der großen Kriege mit ihrem nunmehr auf die Bedeutung einer Fußnote im Geschichtsbuch herabgesunkenen Wien in Hassliebe auseinandergesetzt haben. Wie er das alles macht, seine Stimme und die Mimik jeweils anpasst, an all die Zynismen und Boshaftigkeiten und im Anschluss singt, das hat große Klasse. Und uns, dem 2024er-Publikum hier im Turmtheater, läuft’s kalt den Buckel runter, in einer Mischung aus Schrecken und Faszination, aus Wiedererkennen und Fassungslosigkeit.
Vom kalten zum heißen Krieg
Vor ziemlich genau zehn Jahren war Werner Steinmassl schon mal zu Gast, mit diesem Karl Kraus gewidmetem Programm, im Literaturhaus Oberpfalz in Sulzbach-Rosenberg. Damals, Ende März 2014, war das anstehende Gedenken an den Ausbruch des ersten der beiden Weltkriege bereits überschattet von Putins soeben erfolgter Okkupation der Krim. Sodass sich damals die Analyse aufdrängte, wie „aus einem vermeintlich auf Kelvintemperaturen heruntergekühlten Konflikt eine Krise und – so jedenfalls erzählen‘s uns die Zeitungen – ein neuer Kalter Krieg werden kann“. Heute, ein Jahrzehnt später und zweieinhalb Jahre nach dem Überfall Russlands auf die gesamte Ukraine wissen wir: Der Krieg ist zurück, in Europa. Und zwar in seiner heißen Variante. Karl Kraus, der sich selbst immer wieder als „Nörgler“ zu Wort meldet, in seinem Stück (das eigentlich für den Literaturnobelpreis vorgesehen war), er ermahnt uns, stets ganz genau hinzuschauen. Um weder in patriotischen Taumel zu verfallen. Noch das Ende dessen aus den Augen zu verlieren, was zu Beginn vielleicht alternativlos erscheint. Wer sich diesem monumentalen Autor und Medienanalytiker annähern möchte, dem sei übrigens Jens Malte Fischers mittlerweile für 25 Euro als Paperback bei dtv erhältliche und knapp 1.100 Seiten starke Biografie empfohlen. Sie eröffnet nämlich einen Rundblick auf jenes Wien vor hundert Jahren, das heute längst verschüttet ist und seinerseits der Enträtselung bedarf – und doch so gegenwärtig erscheint. Werner Steinmassl sei Dank! (Peter Geiger)
BU: In „Die letzten Tage der Menschheit“ wird introspektiv jene „große Zeit“ beleuchtet, von der Karl Kraus behauptet, er habe sie schon gekannt, „wie sie so klein war“. Werner Steinmassl verleiht darin dem vielstimmigen Chor von Beteiligten eine authentische Stimme, die uns, das Publikum, gleichermaßen erschrecken und frösteln lässt.
(Fotokredit: Turmtheater/Peter Geiger)