„Pfui ruft da ein jeder: garstger Struwwelpeter!“, ließ Dr. Heinrich Hoffmann im Jahre 1844 kein gutes Haar an Kindern mit bauschiger Mähne und Fingernägeln, die an Edward mit den Scherenhänden erinnern. Apropos Schere. Dem kleinen Konrad werden im Struwwelpeter die Daumen abgeschnitten, weil er nicht auf seine Mutter hören wollte. Paulinchen starb – ebenfalls wegen Ungehorsams -sogar den Feuertod. Der Arzt und Psychiater (1809-1894) aus Frankfurt schrieb und bebilderte den „Struwwelpeter“ für seinen Sohn. Seiner Ansicht nach gab es nur alberne Bildersammlungen und Geschichten, die ihm zu moralisch waren. Also schrieb er eine Geschichte, die seinen Ansprüchen gerecht wurde. Im Struwwelpeter verknüpfte Hoffmann selbst gezeichnete Bilder mit Erzählungen. Das Buch wurde ein Bestseller. Über 950000-mal wurde es zu Lebzeiten Hoffmanns verkauft. Heute gibt es den Struwwelpeter in über 40 Sprachen. Er sorgte aufgrund seiner teilweise verstörenden Inhalte für viele Kontroversen.
2020 übertrug der Regensburger Klaus „schwafi“ Schwarzfischer, der über verschiedene Kunst- und Kultursparten agiert, diese Struwwelpeter-Geschichten in Bayerische. „Da Schtruwlbeda“ erschien im SüdOst-Verlag. Hoffmanns „schwarze Pädagogik“ erfuhr dabei einen humorvollen Twist. Der Suppenkasper verhungert nicht, weil ihm seine Mutter endlich statt der faden Suppe eine Pizza serviert. Dem Konrad werden seine abgeschnittenen Daumen wieder angenäht. Auch für den Hanns Guck-in-die-Luft und den fliegenden Robert enden die Geschichten nicht in einem Desaster, sondern lebenslustig und hoffnungsfroh. Vier Jahre nach Veröffentlichung seines Buches „Da Schtruwlbeda“ machte sich „schwafi“ an die musikalische Umsetzung. Inspiriert dazu wurde er unter anderem von der britischen, makaber-komödiantischen Band „The Tiger Lillies“. Die Tiger Lillies hatten mit „Shockheaded Peter“ eine extravagante, englischsprachige Struwwelpeter-Adaption als Musikalbum und Bühnenstück/Musical/Oper herausgebracht. „Abseits des Mainstreams“ und „kurz und knackig“ sollte es werden. Dazu würfelte Schwarzfischer verschiedene Stilrichtungen zusammen, damit sich „Paula brennt“ weder für ausgewiesene Rock- noch für Country- oder Pop-Fans zu geschmeidig anhört. Nur ein Song, „Hos und Jager“, schafft es über die 3-Minuten-Grenze. Als eigenwillig könnte auch der Produktionsablauf bezeichnet werden. Musikalische Kooperationspartner für das Projekt fand Schwarzfischer auf einer internationalen Freelancer-Plattform, ansonsten kommt die Musik vom Computer. Für die Gesangsaufnahmen wurde das heimische Schlafzimmer missbraucht, das Fenster mit Kissen und Bettlaken schallisoliert. Das Album wurde nach der vierten Geschichte im Buch benannt, die im Original „Die gar traurige Geschichte mit dem Feuerzeug“ heißt. Und das bedauernswerte Mädel schafft es 180 Jahre nach seinem grausamen Ableben somit auf das Cover des neuen schwafi-Albums. Schwarzfischer vertont in „Paula brennt“ alle Texte aus seiner bayrischen Version des Kinderbuch-Klassikers. Genauso wenig wie der Struwwelpeter mit seinem pädagogischen Ansatz und seinen moralischen Wertvorstellungen heute noch als zeitgemäßes Kinderbuch gelten kann, handelt es sich bei den Songs auf „Paula brennt“ um Kinderlieder. Pop, Punk, Country und Crossover findet sich auf der Scheibe respektive dem Stream. Die Texte orientieren sich an den Frankfurter Originalen, wandeln sie aber inhaltlich und stark ab. Meist ist nicht mehr das Kind für das Unglück, das ihm zustößt verantwortlich, sondern wie im Fall der kleinen Paula die Feuerwehr. Locker dahingezupfte Melodien wechseln sich mit treibenden Rhythmen ab. Mal stampft es, mal wird es nachdenklich, wie in „Hos und Jager“, bei dem die Umkehrung der Waffengewalt in ein „S Allerschlimmste is am End, a Flintn in der falschen Hend“ mündet. Dass dieser Song als softe Westernschmonzette daherkommt, ist selbstredend kein Zufall. Einige Lieder klingen eingängig. Andere wie der „Zapplphilipp“ wirken rhythmisch und melodisch gegen den Strich gebürstet – zappelig eben! Außerdem: Bei „Af und davo“ donnert und stürmt es, in „Damerlutschn“ knarzen Türen, beim Titelsong „Paula brennt“ wird der Refrain nicht gesungen, sondern kläglich von Katzen miaut. Diese musikalischen Ecken und Kanten machen in Verbindung mit den Dialekt-Lyrics den eigenständigen Charakter des Albums aus. Es erhebt keinen Anspruch auf Perfektion. Eher auf Emotion. Die Songs gibt’s auf den verschiedenen Streaming-Plattformen wie Spotify, Apple Music, iTunes und andere, wer das als CD mag, kann es über www.schwafi.com direkt bestellen. (P.Ro)
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